Christos Katsioulis · IPG Journal
Russlands Krieg in der Ukraine blockiert die OSZE. Beim Ministerratstreffen in Skopje braucht es Lösungen – auch mit Moskau.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur jedes internationale Recht mit Füßen getreten, sondern gleichzeitig auch die Axt an die so genannte regelbasierte internationale Ordnung und ihre multilateralen Organisationen gelegt. Denn parallel zu seinem Angriff blockiert Russland zahlreiche multilaterale Entscheidungsprozesse in internationalen Organisationen. Im Zuge dessen sowie der westlichen Bemühungen, Russland international zu isolieren, zeichnen sich dabei eine Reihe von höchst unerfreulichen „Kollateralschäden“ ab. Daran können auch die Befürworter einer regelbasierten internationalen Ordnung, zu denen auch Deutschland zählt, kein Interesse haben.
Besonders betroffen von dieser Entwicklung ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die weltgrößte regionale Sicherheitsorganisation. Im Gegensatz zu NATO, EU oder auch der neu geschaffenen Europäischen Politischen Gemeinschaft ist die OSZE, ähnlich wie die Vereinten Nationen, eine Organisation nicht-gleichgesinnter Staaten. Neben sämtlichen NATO- und EU-Mitgliedsstaaten zählen auch Russland, Belarus und die Ukraine zu den 57 recht diversen Teilnehmerstaaten. Spätestens seit Februar 2022 ist die Organisation in ihrer Handlungsfähigkeit jedoch massiv eingeschränkt. Das Konsensprinzip, das bei allen substantiellen Entscheidungen Anwendung findet, wird hauptsächlich von Russland (sowie seinem Verbündeten Belarus) konsequent für eine politische Blockade der Organisation benutzt.
Nicht nur Russland blockiert – denn der Westen versucht gleichzeitig, Russland in der OSZE zu blockieren.
2022 führte der polnische OSZE-Vorsitz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Politik des „No business as usual“ ein, die von einem Großteil der übrigen Teilnehmerstaaten befürwortet und aktiv mitgetragen wird. Damit sollte die Singularität des russischen Angriffs auch in der OSZE hervorgehoben und deutlich gemacht werden, dass auch der politische Austausch zwischen den Teilnehmerstaaten dieser Situation Rechnung zu tragen hat. Seither finden in Wien kaum mehr Dialoge im Rahmen der OSZE statt, sondern entweder serielle Monologe oder die Delegationen verlassen gar direkt den Raum, sobald russische Vertreterinnen oder Vertreter sprechen – von Austausch kann keine Rede sein. Die durch den russischen Angriffskrieg bedingte politische Polarisierung zwischen den OSZE-Teilnehmerstaaten hat daher mittlerweile dazu geführt, dass „no business as usual“ in der Praxis zu „no business at all“ wird. Denn die russische Blockadepolitik wird mit einer reziproken Gegenblockade des Westens beantwortet. Der Kollateralschaden ist die Handlungsfähigkeit der OSZE, denn sie wird zunehmend zur Geisel des Konflikts zwischen Russland und dem Westen.
Der letzte einjährige Haushalt der Organisation konnte 2021 unter dem schwedischen Vorsitz verabschiedet werden. Demensprechend verfügt die OSZE seit knapp zwei Jahren über keine finanzielle Planungssicherheit. Obwohl die Arbeit der Organisation und ihrer Durchführungsorgane aufgrund administrativer Übergangslösungen weiter fortgesetzt wird, ist die finanzielle Grundlage der OSZE höchst limitiert. Es besteht die Gefahr, dass die politische Lähmung dazu führt, dass die Organisation über kurz oder lang finanziell auszehrt.
Nicht nur der OSZE-Haushalt, sondern auch die überwiegende Mehrheit der Mandate der OSZE-Feldoperationen bedarf eines jährlichen Konsensbeschlusses durch die Teilnehmerstaaten. Darüber hinaus gilt das Konsensprinzip auch für zentrale Personalentscheidungen (insbesondere die Ernennung der künftigen Generalsekretärin oder des Generalsekretärs), und den Beschluss über den OSZE-Vorsitz für das kommende Jahr. Während Finnland für 2025 bereits als OSZE-Vorsitz feststeht, ist die Nachfolge des diesjährigen nordmazedonischen Vorsitzes noch offen.
Aufgrund der äußerst prekären Lage, in der sich die OSZE derzeit befindet, kommt dem Ministerrat in diesem Jahr eine besonders wichtige Bedeutung zu. Diese drei Schlüsselfragen – Vorsitz, Budget und Leitungspositionen – müssen am 30. November und 1. Dezember in Skopje unbedingt angegangen werden. Dieses jährliche Treffen der 57 Teilnehmerstaaten ist das zentrale Entscheidungsgremium der Organisation auf der Ebene der Außenminister. Doch es steht zu befürchten, dass sich die politische Paralyse auch nach dem Treffen in Skopje fortsetzt und sich die Zukunftsaussichten für eine handlungsfähige OSZE noch weiter verschlechtern.
Ohne Budget, Vorsitz und Spitzenpersonal droht der OSZE die Lähmung.
Der OSZE droht im nächsten Jahr ohne Vorsitz dazustehen, da Russland bereits vor zwei Jahren die damalige Kandidatur Estlands ablehnte und mittlerweile auf einem Nicht-NATO-Staat als nächsten Vorsitz besteht. Es ist davon auszugehen, dass Alternativkandidaten aus den Reihen der EU-Mitgliedsstaaten, die diese Bedingung erfüllen würden, etwa Österreich oder auch Malta, ihren Hut nicht offiziell in den Ring werfen werden, so lange Estland seine Kandidatur nicht zurückzieht. Ein Kompromiss gilt als schwierig, weil der Rückzug der estnischen Kandidatur von einigen EU-Diplomaten als Zugeständnis gegenüber Russland gewertet wird.
Zusätzlich könnte der OSZE ein Vakuum im Bereich zentraler Leitungspositionen drohen, sollten die seit 2020 amtierende Generalsekretärin Helga Schmidt und die Leiterinnen und Leiter der drei OSZE-Institutionen auf dem Ministerrat nicht für eine weitere dreijährige Amtszeit bestätigt werden. Aus dem Umfeld der OSZE ist zu vernehmen, dass russische Diplomaten dies bereits ins Spiel gebracht haben. Ohne Budget, Vorsitz und Spitzenpersonal droht der OSZE die Lähmung. Um den Gordischen Knoten der politischen Polarisierung zu durchschlagen, müssen sich vor allem die wichtigsten Staaten der Unterstützungskoalition für die Ukraine aus EU und NATO zusammentun und eine gemeinsame Haltung finden, die es ermöglicht, die OSZE aus ihrer Lähmung zu entlassen. Pragmatismus ist dabei das oberste Gebot der Stunde. Das würde bedeuten, trotz aller Differenzen einen gemeinsamen Nenner mit Moskau zu finden, um wenigstens den Vorsitz für 2024 und das Personalpaket zu klären.
Erschwert wird die Suche nach einem gemeinsamen Nenner durch die äußeren Umstände. Denn ein Beschluss dürfte vermutlich nur möglich sein, wenn der Vertreter Russlands zum Ministerrat nach Skopje anreisen dürfte, was im Falle des mit internationalem Strafbefehl gesuchten Außenministers Sergej Lawrow zu einigen diplomatischen Verrenkungen führen dürfte. Die Kunst wird es hier sein, unter mehreren schlechten Entscheidungen die am wenigsten schlechte zu treffen.
Vor dem Ministerrat in Skopje ergibt sich somit eine schier unlösbare Lage.
Denn die Alternative zu einem, mit Schmerzen und Gesichtsverlust verbundenen, pragmatischen Ansatz wäre das kompromisslose Festhalten am Prinzip „no business as usual“. Dies dürfte alsbald zu einem Wachkoma der OSZE führen. Damit bekäme die russische Diplomatie eine Steilvorlage. Denn das Ende der OSZE würde von Moskau als Beispiel für westlichen Doppelstandards angeführt werden, als Beleg des eigenen Narratives, dass der Westen sich den Multilateralismus zwar immer auf die Fahnen schreibt, am Ende des Tages aber nicht davor zurückschreckt, eine wichtige Organisation zu zerstören, wenn sie nicht komplett kontrolliert werden kann.
Vor dem Ministerrat in Skopje ergibt sich somit eine schier unlösbare Lage: eine Lösungsfindung mit Russland scheint nicht vermittelbar und mehrheitsfähig. Gleichzeitig gibt es aber keine Stimmen, auch nicht aus Moskau, die ein Ende der OSZE fordern. Kurz gesagt gibt es keinen politischen Willen, die OSZE zu zerstören, aber kaum genug, um sie als Organisation lebensfähig zu erhalten. Der nordmazedonische OSZE-Vorsitz ist daher gefordert, die kurze Zeit bis zum Ministerrat dafür zu nutzen, um mit den wichtigsten Teilnehmerstaaten kreative Lösungen auszuloten. Deren Unterstützung wird dabei unabdingbar sein. Sowohl Russland, als auch der Westen scheinen immer noch ein grundsätzliches Interesse am Erhalt der OSZE zu haben. Dies kann und muss der kleinste gemeinsame Nenner sein, auf den es aufzubauen gilt. Denn für eine multilaterale Organisationen gilt das Gleiche wie für Vertrauen – kaputt machen geht schnell, aufbauen dauert sehr lange.
Erschienen im IPG-Journal: ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/kurz-vor-dem-wachkoma-7140
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