Simon Weiß & Alexandra Dienes · IPG Journal
Russlands Einfluss auf Zentralasien schwindet. Während die Krisen in der Region zunehmen, machen sich neue Mächte breit.
Im Begleittext zur Zentralasienreise der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock von Anfang November stand auf der Seite ihres Ministeriums Folgendes: „Spätestens seit Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine sehen sich die Staaten Zentralasiens zwischen allen Stühlen. Sie müssen fürchten, zur Verfügungsmasse Russlands einerseits und Chinas andererseits zu werden“.
Für Staaten im Südkaukasus und Zentralasien führt Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer veränderten Kräftekonstellation in der Region. Der russische Einfluss geht zurück, der von China wächst und neue Akteure wie die Türkei gewinnen an Relevanz. Was bedeutet das für Deutschland und die EU? Wie lässt sich das entstehende Machtvakuum füllen und was kann man den Ländern vor dem Hintergrund der propagierten wertegeleiteten Außenpolitik anbieten?
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine bekommt die Region mehr und mehr Aufmerksamkeit, auch weil sich die Krisen häufen. Im Sommer und Herbst kam es zu einem Aufflammen des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan und zu erneuten Grenzgefechten zwischen Tadschikistan und Kirgistan. In Kasachstan gab es im Januar eine Revolte, die blutig niedergeschlagen wurde.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine bekommt Zentralasien mehr und mehr Aufmerksamkeit, auch weil sich die Krisen häufen.
Sicherheitspolitisch haben diese Ereignisse nicht nur mit der russischen Schwächung zu tun. Die lange bestehenden Demarkationsprobleme im Grenzverlauf zwischen Kirgistan und Tadschikistan, die sozio-ökonomischen Ungleichheitsfaktoren in Kasachstan sowie negative Folgen für die Region aus dem Rückzug aus Afghanistan sind schon länger akut. Aber die Intensität und Dauer dieser Krisen sowie die Chancen ihrer Einhegung hängen stark mit der verringerten russischen Machtprojektion, sowohl politisch als auch ökonomisch und militärisch, zusammen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb Russland Garant der regionalen Sicherheit für die lokalen Regime in Zentralasien und teilweise im Kaukasus (Armenien). Zum einen über die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) und über die Unterhaltung von Militärbasen in den Ländern der Region (Kirgistan, Tadschikistan und Armenien), zum anderen bilateral über das Austarieren von militär-technischer Zusammenarbeit.
Zwar betreibt Russland auch nach Beginn des Krieges in der Ukraine weiterhin Militärbasen in Armenien und Zentralasien. Gleichzeitig ist die Regulierung des Zugangs von zentralasiatischen Gastarbeitern zum russischen Arbeitsmarkt ein wichtiger Hebel zur Beeinflussung der Nachbarstaaten. Aber diese Instrumentenkombination verliert zunehmend an Wirkmächtigkeit, angesichts der umfassenden Sanktionen, die langsam ihre Spuren in der russischen Ökonomie hinterlassen.
Die Nachbarstaaten Russlands leiden unter den Kollateralschäden des wirtschaftlichen Abschwungs im Land.
Bereits jetzt leiden die Nachbarstaaten Russlands unter den Kollateralschäden des wirtschaftlichen Abschwungs im Land. Hinzu kommen Mobilitätseinschränkungen und Disruptionen der Lieferketten im Zuge der Pandemie. Rücküberweisungen der in Russland arbeitenden Migranten, die enorm wichtig für die Wirtschaften in vielen zentralasiatischen Staaten und in Armenien sind, fallen dementsprechend niedriger aus. Die Migrationsbewegung geht momentan in die umgekehrte Richtung: Nach dem Beschluss über die Teilmobilisierung in Russland sind Hunderttausende nach Zentralasien und in den Südkaukasus immigriert.
Künftig wird Russland weniger Ressourcen haben, um die Nachbarregionen wirtschaftlich zu unterstützen. Alte Abhängigkeiten werden zum Risikofaktor. Ökonomische Zusammenarbeit mit Russland erscheint langfristig nicht mehr attraktiv. Aber auch der Westen ist in diesem Kontext für den Südkaukasus und Zentralasien nicht automatisch ein attraktiver Alternativpartner. Im Zuge des beispiellosen Sanktionsregimes und der Entflechtung von Russland wird den Ländern der Region vor Augen geführt, welche Risiken die Zusammenarbeit mit dem Westen bergen kann.
China erscheint dazu im Vergleich als deutlich attraktiverer Partner. Bereits seit Jahren wächst der chinesische wirtschaftliche Einfluss in Zentralasien und im Kaukasus durch Infrastrukturinvestitionen und die Belt and Road Initiative. Der Blick auf die Handelsstatistik offenbart eine stetige Verschiebung der Handelsströme. Seit dem Zerfall der Sowjetunion waren Russland und, an ferner zweiter Stelle, die EU die wichtigsten Handelspartner der Region. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist jedoch der Anteil der EU am Handelsvolumen der Länder der Region überall zurückgegangen (außer in der Ukraine und Kirgistan), am deutlichsten in Armenien, Georgien und Kasachstan.
Dagegen ist der chinesische Anteil am Handelsvolumen überall in der Region gewachsen, so auch in Russland. Trotz seiner nahezu vollständigen Absorption in der Ukraine und des relativen Einflussverlustes bleibt Russland dennoch ein bedeutender Akteur in den Regionen Südkaukasus und Zentralasien. Mag in Deutschland und der EU der russische Überfall auf die Ukraine ein krasser Epochenbruch sein, so verändert er das regionale und internationale Koordinatensystem der Staaten in der Region nicht so tiefgreifend wie in Europa.
Russland und China bleiben wichtige Ordnungsmächte. Gleichzeitig gewinnen neue Akteure wie Iran und die Türkei an Bedeutung, mit ihren jeweils angelehnten militär-technischen Partnern in Zentralasien – Tadschikistan und Kirgistan. Im Karabach-Krieg im Sommer 2020 hat sich die Türkei bereits als entscheidender Militärakteur und Waffenlieferant gezeigt. Die balancierende Position zwischen Kiew und Moskau macht Präsident Recep Erdoğan zum potenziellen Vermittler im Krieg in der Ukraine. Allerdings sind die Türkei und der Iran rein transaktional agierende Akteure, die von relativer Instabilität in der Region profitieren und situative Gewinne ökonomischer oder sicherheitspolitischer Natur erzielen wollen. Vor diesem Hintergrund ist es exemplarisch, dass die Türkei (neben China und Indien) zu den Ländern gehört, die ihr Handelsvolumen mit Russland im Zuge des Krieges am stärksten erhöht haben.
Die Wahrnehmung einer Region „zwischen den Stühlen“ ist eine überkommene Sicht auf die regionale Sicherheitsordnung.
Damit wird deutlich: Die Wahrnehmung einer Region „zwischen den Stühlen“ ist eine überkommene, von alten geopolitischen Denkmustern inspirierte Sicht auf die regionale Sicherheitsordnung. Die lokalen Machthaber sind bestrebt, ihre Herrschaft zu sichern, die territoriale Integrität ihrer Staaten zu bewahren, weiterhin ihrem ausgeprägt transaktionalen Außenpolitikstil zu folgen und schlussendlich vor allem Sicherheit und Prosperität für ihr jeweiliges Land zu generieren. Sie sind an einer Diversifizierung ihrer außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Partner interessiert (ganz im Sinne der Risikostreuung). Die EU ist dabei nur ein Akteur unter vielen. Ihre außenpolitische Orientierung ist somit in erster Linie keine Frage von Überzeugung – nach dem Motto: „Schließt euch uns an, denn wir haben das bessere System“ –, sondern mehr die Anerkennung von sicherheitspolitischen und ökonomischen Realitäten.
Daher sollte die EU strategisch und im Einklang mit den eigenen Werten versuchen, ihren Einfluss in Zentralasien und im Kaukasus auszubauen, unter der realistischen Prämisse, dass Russland weiterhin ein wichtiger Akteur bleibt, China weiter an Einfluss gewinnen wird und neue Akteure wie die Türkei zunehmend mitreden werden.
Das Ziel kann es daher nicht sein, Russland und China aus Zentralasien oder aus dem Südkaukasus herauszudrängen. Dafür hat die EU, oder Deutschland, gar nicht die Möglichkeiten. Denn sie können die wegfallenden Elemente innerer und äußerer Sicherheit nicht kompensieren.
Wenn es Deutschland und der EU jedoch gelingt, diesen Staaten dabei zu helfen, aus der aktuellen geopolitischen und ökonomischen Krise stabiler herauszukommen, dann wird damit schon viel erreicht sein. Dabei müssen ihre Perspektiven stärker einbezogen werden. Diese werden in den meisten Fällen rund um ihren Wunsch nach Herrschaftsstabilisierung gestrickt sein.
Das Ziel kann es daher nicht sein, Russland und China aus Zentralasien oder aus dem Südkaukasus herauszudrängen.
Dabei wäre es angebracht, im Kleinen, in der konkreten wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf die Erfüllung von Produktionsstandards, Arbeitnehmer- und Menschenrechten sowie Umweltschutz zu achten. Das wird sukzessive mehr Positives bewirken als eine unrealistische Anspruchshaltung, wie sie in Zeiten der deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft existierte.
Wenn man die Handlungsmotivation der zentralasiatischen und südkaukasischen Partner erkennt und verstünde, könnte man trotzdem etwas machen, das im deutschen und europäischen Interesse wäre – nämlich pragmatischen Realismus praktizieren (Heiko Maas). Was der ehemalige Außenminister erst ganz am Ende seiner Amtszeit äußerte, könnte kurz- bis mittelfristig zu einer stärkeren Rolle Deutschlands beitragen. Denn damit geht eine Mäßigung des eigenen Anspruchs einher, es wird nicht der globale Kampf von Gut gegen Böse, Demokratien gegen Autokratien ausgefochten, sondern es wird im beiderseitigen ökonomischen Vorteil agiert, mit einer gleichzeitig stabilisierenden Wirkung in einer fragilen Region. Das ist keine Selbstverzwergung, sondern eine zeitgemäße Rückbesinnung auf Fähigkeiten, die in der internationalen Zusammenarbeit in der Vergangenheit funktioniert haben und über die wir mehr oder weniger souverän verfügen.
Das mag für einige nicht viel sein, angesichts des aktuellen Transformationsimpetus in westlichen Hauptstädten, wird aber wahrscheinlich mehr zur nötigen Stabilisierung im Konfliktbogen vom Südkaukasus bis zum Pamir beitragen als grobes, geopolitisches Vor-die-Wahl-Stellen, ohne Anerkennung von institutionellen, geografischen, ethnischen und ökonomischen Handlungszwängen, denen Staaten wie Kasachstan, Kirgistan oder Armenien unterworfen sind.
Erschienen im IPG Journal, 28.11.2022: https://www.ipg-journal.de/regionen/asien/artikel/im-machtvakuum-6351/
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