Christos Katsioulis · IPG Journal
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz demonstrieren die EU und die USA Einigkeit. Doch der Russland-Konflikt deckt Bruchstellen auf.
Selten hat die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) zu einem politisch brisanteren Zeitpunkt stattgefunden. Während die russischen Truppen rund um die Ukraine Stellung bezogen, trafen in der bayerischen Hauptstadt die Denkerinnen und Lenkerinnen der Außen- und Sicherheitspolitik zusammen. Das hatte zwar zur Folge, dass die Abendnachrichten regelmäßig und auf allen Kanälen mit Ton und Bild aus München untermalt werden konnten, dennoch war der Neuigkeitswert gering. Bei der zentralen Frage, wie mit der russischen Aggression umzugehen sei, waren sich die entscheidenden Männer und Frauen schon vorher einig. Die Sicherheitskonferenz war daher eine passende Bühne zur rechten Zeit, um diese Botschaften noch einmal zu wiederholen.
Was von der Konferenz in diesem Jahr bleibt, sind drei Aspekte. Erstens: Der Westen hat wieder zusammengefunden. Das Motto der MSC vor zwei Jahren lautete noch „Westlessness“. Man beklagte mit Blick auf Donald Trump im Weißen Haus den Verlust der gemeinsamen Wertebasis innerhalb des kollektiven Westens. 2022 war das passé. Die Tagung erinnerte an ein Familientreffen, nachdem der Streit ums Erbe beigelegt wurde. Die Freude über die gemeinsame Gesprächsbasis war allenthalben zu spüren, der böse Traum mit den „America First“-Mützen war vorbei.
Zweitens bleibt der ovale Tisch mit hundertprozentigem Männeranteil, der während eines Wirtschaftstreffens bei der MSC fotografiert wurde. Obwohl die gesamte Konferenz von wohltuend divers besetzten Panels geprägt war und nirgendwo das muffig-verstaubte Ambiente eines old boys clubs zu erkennen war, wirkt auf den sozialen Medien vor allem diese Runde aus weitgehend ergrauten Herren nach.
Selenskyi legt den Finger in die schwelende NATO-Wunde: Soll die Ukraine Mitglied der Allianz werden?
Der dritte Punkt, der hängenbleibt, ist aus der Rede der neuen Außenministerin Annalena Baerbock. Darin machte sie deutlich, dass sich der Blickwinkel auf den Konflikt verändern müsse: „Diese Krise ist deswegen – und da müssen wir sehr genau beim Framing aufpassen – keine Ukraine-Krise. Sie ist eine Russland-Krise.“ Damit weitete sie die Perspektive weg von einem eher regional begrenzbaren Problem hin zur Fokussierung auf einen Akteur, verbunden mit der grundsätzlichen Frage der Erhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung.
Dieser letzte Punkt verbindet sich dann jedoch wieder wunderbar mit dem ersten Aspekt, der Einigkeit des Westens. Denn die ist im Falle der Abwehr Russlands und der Betonung der gemeinsamen Wertebasis einfacher herzustellen als bei der Frage der Zukunft der Ukraine. Während unter dem Eindruck des russischen Truppenaufmarschs rund um die Ukraine die finanziellen, politischen und ökonomischen Maßnahmen gegen Russland schon in der Schublade liegen, ist weiterhin unklar, wie künftig mit der Ukraine umgegangen werden soll. Einige NATO-Mitglieder liefern bereits Waffen und bilden ukrainische Soldatinnen und Soldaten aus, während andere, darunter Deutschland und Frankreich, sich bis zur letzten Minute um eine Verhandlungslösung bemühten. Einer der zentralen Streitpunkte kam dann später auf die Tagesordnung. Der ukrainische Präsident Selenskyi kritisierte einen Tag nach Baerbock in einer emotionalen Rede auf der Sicherheitskonferenz die ambivalente Haltung der NATO gegenüber seinem Land – die Tür ist grundsätzlich offen, aber jetzt bitte nicht – und forderte bis zum NATO-Gipfel im Juni in Madrid Klarheit.
Beim Ringen um eine Antwort auf die Anerkennung der separatistischen Republiken in Donezk und Luhansk durch die Russische Föderation brechen alte Risse in der EU und der NATO wieder auf.
Damit hat er den Finger in eine weiterhin schwelende Wunde der Allianz gelegt, die seit dem Gipfel von Bukarest 2008 offen ist. Denn die Frage eines Beitritts der Ukraine zur NATO ist innerhalb der Allianz heftig umstritten. Zwar stehen einer Aufnahme des Landes wichtige Gründe entgegen – nicht zuletzt aufgrund des Konflikts mit Russland, der Besetzung der Krim und nun auch der Gebiete in Donezk und Luhansk. Dennoch stützt ein substanzieller Teil der Bevölkerung in einigen NATO-Staaten wie Polen oder Lettland eine Beitrittsperspektive der Ukraine, während dies in Deutschland oder Frankreich außer Frage steht.
Die Einigkeit des Westens ist mithin nur eine oberflächliche und der Eindruck von der Sicherheitskonferenz könnte sich als sehr flüchtig erweisen. Denn beim Ringen um eine Antwort auf die nur einen Tag nach München erfolgte Anerkennung der separatistischen Republiken in Donezk und Luhansk durch die Russische Föderation brechen alte Risse in der EU und der NATO wieder auf. Das Sanktionspaket, das man mühsam geschnürt hatte, beruhte auf zwei Annahmen – einer ausgesprochenen und einer unausgesprochenen. Die ausgesprochene lautete, dass die Sanktionen im Falle einer Invasion der Ukraine in Kraft treten. Viele der zwischenzeitlich gestreuten Geheimdienstberichte hatten auf ein solches Szenario hingewiesen und ein derart eklatanter Bruch des Völkerrechts hätte eine sehr klare und eindeutige Reaktion hervorgerufen. Die Anerkennung der beiden abtrünnigen Gebiete und der Einmarsch in diese Gebiete werden jedoch unterschiedlich gelesen. Einerseits als Invasion und damit als klaren Auslöser von Sanktionen. Andererseits wird es lediglich als Akzeptanz der Realität gesehen – immerhin wurden diese Gebiete auch vorher nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert. Die unausgesprochene Annahme lautete, dass man eine Eskalation schon verhindern werde und damit gar nicht in die Situation gelangen werde, die Sanktionen in Kraft setzen zu müssen.
Mit der Eskalation durch Putin wird die mühsam hergestellte Einigkeit aufgebrochen. Denn so wie Washington die Lieferungen russischen Öls ungern einem Sanktionsregime aussetzen will – Russland ist der drittgrößte Öllieferant für die USA –, zielen auch andere Akteure darauf ab, ihre eigenen Schäfchen im Trockenen zu halten.
Wer kann sich schon wünschen, dass europäische Sicherheit in wenigen Jahren zwischen Putin und einem amerikanischen Präsidenten à la Trump verhandelt wird?
In dieser Gemengelage hat die deutsche Bundesregierung einen unerwartet klaren Schritt gemacht und den Zertifizierungsprozess für die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 ausgesetzt. Damit hat das Land, das bisher eher als unsicherer Kantonist im Reigen des Westens dargestellt wurde, Führungsverantwortung übernommen und deutlich gemacht, dass es Kanzler Scholz Ernst damit ist, Europa als außenpolitischen Akteur zu stärken. Er zeigt auf diese Weise nicht nur die von vielen auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz mantrahaft angemahnte Führungsverantwortung Deutschlands, sondern erfüllt gleichzeitig einen in der Bevölkerung verankerten Wunsch nach Weltpolitikfähigkeit der EU. Diese Präferenz für eine aktive Außenpolitik und eine starke Rolle der EU hat der Security Radar 2022 der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgearbeitet.
Zudem macht dieser Schritt deutlich, dass die zelebrierte Einigkeit bei der Sicherheitskonferenz in München nicht alles gewesen sein darf, sondern das eigentliche Motto der Konferenz „Unlearning Helplessness“ in den Mittelpunkt der Anstrengungen der kommenden Jahre rücken muss. Dazu gehört aus einer deutschen und europäischen Perspektive unbedingt die Verständigung darüber, was die strategischen Ziele der Union sind und welche Mittel dafür eingesetzt werden müssen.
Der im Moment in der Erstellung befindliche Strategische Kompass der EU kann dazu erste Hinweise geben. Das sind aber erst mal nur Bekenntnisse. Diese mit tatsächlichen Strategien und ihrer Umsetzung zu unterfüttern, muss die Priorität der nächsten beiden Jahre sein. Denn was niemand wirklich laut in München sagen wollte, wo man sich doch gerade wieder so harmonisch zusammengefunden hatte: Mit der Trump-Regierung hat man vier Jahre in potenzielle Abgründe geblickt. Und niemand kann garantieren, dass sich dies nicht wiederholt. Dann muss Europa aber in der Lage sein, eigenständiger über die eigene Sicherheit zu bestimmen – strategisch souverän sein. Denn wer kann sich schon wünschen, dass europäische Sicherheit in wenigen Jahren zwischen Putin und einem amerikanischen Präsidenten à la Trump verhandelt wird? Das wäre dann die desaströse Melange aus Westlessness und Helplessness.
Ursprünglich erschienen im IPG-Journal, 23.02.2022:https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/haelt-der-putz-5736/
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