Alexandra Dienes · IPG Journal
Bisher unterstützt die Bevölkerung die Zeitenwende, doch dass es so bleibt, ist nicht sicher. Drei Lehren für die deutsche Politik.
Deutsche Flugabwehrpanzer in Kiew, die Ukraine als EU-Beitrittskandidat, gesprengte Gaspipelines zwischen Deutschland und Russland und eine deutsche Öffentlichkeit, die in jeder zweiten Talkshow über die Vor- und Nachteile von Kampfjets diskutiert – ein Jahr nach der historischen „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz sind schon viele Anzeichen dieser Zäsur erkennbar. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass es für die aktuelle Situation keine Blaupause gibt und die weitere Entwicklung der Zeitenwende offen bleibt. Weder ein Eskalationsszenario noch die Möglichkeit eines lange andauernden Abnutzungskrieges lassen sich ausschließen.
Die bemerkenswerte Kampfbereitschaft der Ukraine hat im Lauf des Jahres nicht nachgelassen, auch dank der massiven Militärhilfe aus dem Westen. Dieser hat eine beachtliche Einigkeit bewiesen, die auf dem Gipfelmarathon der vergangenen Wochen und Monate eindrücklich bekräftigt wurde. Nichtsdestotrotz scheint das Ende des Krieges nicht in Sicht zu sein und die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung ist in weite Ferne gerückt. Russland gibt trotz hoher Verluste nicht auf. Nach Putins jüngster Rede zur Lage der Nation scheint Russland sich endgültig vom Westen und einer regelbasierten Ordnung zu verabschieden.
Der russische Angriffskrieg leitete einen tiefgreifenden Wandel in Deutschland ein, der bis heute andauert.
Der russische Angriffskrieg leitete einen tiefgreifenden Wandel in Deutschland ein, der bis heute andauert. Er umfasst eine Kehrtwende in der Russlandpolitik und der Energiepolitik, die größte Aufstockung des Verteidigungshaushalts seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und einen politischen Tabubruch mit der Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet. Angefangen mit 5000 Helmen, bis hin zu Leopard-Kampfpanzern verwandelte sich Deutschland innerhalb eines Jahres von einem stark kritisierten Nachzügler zu einem der wichtigsten militärischen Unterstützer der Ukraine. Trotzdem ist Deutschland weiterhin der Kritik nach dem Motto „too little – too late“ ausgesetzt.
Den Ergebnissen des Security Radar 2023 zufolge unterstützt die deutsche Öffentlichkeit die Zeitenwende. Die Neubewertung der Sicherheitslage und des Verhältnisses zu Russland (aber auch China) ist tiefgreifend. Dazu kommt eine starke Bereitschaft, die wirtschaftliche Abhängigkeit von diesen Staaten zu reduzieren. Erstmals seit Jahrzehnten befürwortet eine Mehrheit der Deutschen die Steigerung der Verteidigungsausgaben. Gleichzeitig zeigt die öffentliche Meinung und Debatte eine starke Kontinuität der Kultur der Zurückhaltung. Die Fokussierung auf Frieden, die grundsätzliche Skepsis gegenüber militärischen Instrumenten und die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung sind Zeichen dafür. Damit ist die gegenwärtige öffentliche Unterstützung der Zeitenwende nicht unumstößlich.
Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine Tragödie für das betroffene Land, sondern bleibt eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands.
Drei Aspekte sind hierbei von Bedeutung: Erstens, die politisch-militärische Ebene: Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine Tragödie für das betroffene Land, sondern bleibt eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands. Das erzeugt Ängste und Sorgen in der Bevölkerung. Viele Menschen glauben, dass der Krieg noch lange andauern wird, und setzen auf eine diplomatische Lösung. Gleichzeitig spaltet die Frage von weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine die Gesellschaft – nur eine hauchdünne Mehrheit ist dafür. Skepsis herrscht auch im Hinblick auf den Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO. Möglicherweise fürchten die Menschen eine Eskalation des Konflikts ins eigene Bündnis oder sie zweifeln an der Eignung der Ukraine als Mitgliedsland. Eine klare rote Linie ist die Entsendung deutscher Truppen in die Ukraine. Drei Viertel der Befragten lehnen einen solchen Schritt ab. Der Wechsel von „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu „Frieden schaffen mit Waffen“ ist in der Gesellschaft mithin nicht erfolgt. Deshalb sollte hinterfragt werden, ob Frieden langfristig mit mehr Waffen gesichert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Regierung die Unterstützung der Ukraine weiterhin sehr genau gegen das Risiko einer möglichen Kriegseskalation abwägt. Dabei sollte die verantwortungsethische Maxime handlungsleitend sein: Der Zweck darf nicht jedes Mittel heiligen. So rechtfertigt die Verteidigung der ukrainischen Souveränität beispielsweise nicht den Einsatz international geächteter Waffen. Daher ist die deutsche Absage der ukrainischen Forderung nach Streumunition absolut richtig.
Zweitens: Die wirtschaftliche Dimension der Zeitenwende ist nicht weniger folgenschwer für Deutschland. Momentan wird eine Reduktion der Abhängigkeiten von Russland und China in der öffentlichen Meinung befürwortet. Die langfristigen Kosten des Krieges und der wirtschaftlichen Entkopplung sind aber den Wenigsten klar. Ohne kompensierende Investitionen in Produktivitätssteigerung und Innovationen werden die anhaltend hohen Energiekosten nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland, sondern auch unzählige Jobs gefährden. Die Abfederung der unmittelbaren Kriegsfolgen durch den 200 Milliarden Euro schweren „Doppelwumms“ ist folgerichtig und mag für die Bevölkerung vorerst Abhilfe schaffen. Sollte der Effekt aber nicht ausreichen, um langfristige Kosten und möglicherweise sinkende Lebensstandards auszugleichen, könnte es kritisch werden. Wenn Sozialkürzungen notwendig werden, um neue Waffen für die Bundeswehr zu beschaffen, wird es besonders schwierig werden, die Wählerinnen und Wähler von langfristig hohen Militärbudgets zu überzeugen. Der vorhandene Spielraum könnte weiter verengt werden, wenn der Finanzminister auf der Einhaltung der Schuldenbremse beharrt und sich dieses Dilemma schon in den nächsten Jahren zuspitzt.
Besonders besorgniserregend ist das tiefe gegenseitige Misstrauen zwischen Polen und Deutschland.
Drittens, die europäische Ebene. Der Blick auf die öffentliche Meinung in Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen zeigt, dass der Krieg zu mehr Gemeinsamkeiten geführt hat. Das betrifft das veränderte Bild von Russland, die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen – wobei die gleiche rote Linie gezogen wird, nämlich Entsendungen eigener Truppen wird abgelehnt –, sowie der Wunsch nach dem Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee. Die Einigkeit innerhalb der EU ist somit nicht nur Ergebnis politischer Entscheidungen, sondern eine echte Annäherung der Wahrnehmungen. Jedoch ist das Fundament des Vertrauens zwischen den Staaten fragil. Besonders besorgniserregend ist das tiefe gegenseitige Misstrauen zwischen Polen und Deutschland. Zudem gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen über Wege zur Beendigung des Krieges, zur Frage, ob die Ukraine Mitglied der EU werden sollte, und zum Umgang mit China.
Die Zeitenwende hat begonnen, ist aber keineswegs abgeschlossen. Sie ist nun vielmehr Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Der Ausgang des Krieges ist hierbei eine bedeutende Unbekannte. Daher bedarf es für die weitere Gestaltung der Zeitenwende einer ernsthaften politischen Debatte. Diese darf sich nicht allein auf die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld und das nächste zu liefernde Waffensystem konzentrieren, sondern muss die langfristigen Folgen der Zeitenwende in den Blick nehmen. Also eine Debatte über europäische Sicherheit, die das zukünftige institutionelle Gefüge des Kontinents ergebnisoffen in den Blick nimmt, dabei eine Anknüpfung an die Erfahrungen mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Kalten Krieg vorsieht und sich mit einem resilienteren, nachhaltigen Wirtschaftsmodell Deutschlands befasst, das die Vor- und Nachteile globaler Abhängigkeiten abwägt.
Die Zeitenwende hat begonnen, ist aber keineswegs abgeschlossen.
Bisher hat der Großteil der Öffentlichkeit den Regierungskurs wohlwollend mitgetragen. Angesichts der Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit von massiven Herausforderungen ist das beachtlich. Besonders nachdem zu Beginn des Krieges keine angemessene parlamentarische oder gar öffentliche Debatte über die schwerwiegenden politischen Entscheidungen, inklusive einer Grundgesetzänderung, geführt wurde. Dieser Vertrauensvorschuss in die Arbeit der Regierung galt vor allem den kurzfristigen Maßnahmen in der akuten Krisensituation. Langfristig ist eine breite und kritische gesellschaftliche Debatte unabdingbar.
In so einer unsicheren Sicherheitslage mit ungewissen politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen braucht es eine kommunikative Begleitung der Zeitenwende. Denn sonst können die öffentliche Unterstützung der Regierungspolitik und vor allem die Bereitschaft bröckeln, den Preis für die Zeitenwende zu zahlen.
Erschienen im IPG-Journal, 28.02.2023: https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/artikel/haelt-das-wohlwollen-6540/
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