18.06.2024

Gipfelerfolg, oder?

Christos Katsioulis · IPG Journal

Die Friedenskonferenz in der Schweiz liefert eher magere Ergebnisse. Grund dafür waren insbesondere zwei unvereinbare Ziele.

Im Schweizerdeutschen gibt es eine charmante Eigenheit. Menschen aus der Alpenrepublik beenden ihre Sätze sehr oft mit einem „oder“ und fügen somit ein Fragezeichen an ihre ansonsten recht klare Aussage. Das wäre vermutlich auch der passendste Titel für die Konferenz auf dem Bürgenstock gewesen: Gipfel für den Frieden, oder?

Es war die größte internationale Konferenz, die jemals von der Schweiz ausgerichtet wurde. Der „Gipfel für Frieden in der Ukraine“, wie das Treffen schlussendlich genannt wurde, versammelte Vertreterinnen und Vertreter von 92 Staaten und acht internationalen Organisationen im mondänen Bürgenstock am Vierwaldstädter See.

Das Ergebnis liest sich auf dem Papier eher mager und rechtfertigt damit das schweizerdeutsche Fragezeichen. Das Schlusskommuniqué ist zwar recht klar formuliert. Es fordert die Wiederherstellung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine, Schutz der Atomanlagen und der Getreideexporte, ebenso wie die Rückführung ziviler Gefangener. Aber nur 80 der 92 anwesenden Staatenvertreter haben es unterzeichnet und unter den zwölf Absenzen sind ausgerechnet einige Schwergewichte der Konferenz, wie Saudi-Arabien, Mexiko, Indien und Südafrika.

Aber es wäre unfair, den Gipfel nur an den direkten Ergebnissen zu messen. Seit die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul im April 2022 scheiterten, ist der Weg zum Frieden zwischen den beiden Ländern mit einer Reihe von Hindernissen versperrt. Nicht zuletzt die kurz vor dem Gipfel verkündeten Maximalforderungen von Präsident Putin illustrieren, wie gering die Bereitschaft Moskaus ist, sich auf Verhandlungen einzulassen, die notwendigerweise mit Zugeständnissen verbunden sind. Aus russischer Perspektive setzt er damit einen Kontrapunkt gegen den Zehn-Punkte-Plan des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Denn Teile aus diesem Plan formten die Agenda der Konferenz in Bürgenstock, eine Konferenz, die zudem auf Bitten Kiews von der Schweizer Präsidentin ausgerichtet wurde.

Die Unvereinbarkeit der russischen und der ukrainischen Positionen war von Beginn an bekannt.

Die Unvereinbarkeit der russischen und der ukrainischen Positionen war von Beginn an bekannt, das sollte auch nicht Gegenstand des Treffens sein. Niemand hegte die Erwartung, dass dieses (oder irgendein anderes) Gipfeltreffen kurzfristig zu einer gerechten Lösung des Konflikts führen werde. Das Grundproblem des Gipfels war aber ein anderes: Er vereinte zwei Ziele, die miteinander inkompatibel sind. Einerseits sollte er Impulse für einen Friedensprozess zwischen Russland und der Ukraine setzen, andererseits war er eine Art Solidaritätstreffen für die Ukraine, um der Welt zu verdeutlichen, wie breit die weltweite Unterstützung für Kiew ist. Der Eindruck einer „Der Westen gegen den Rest“-Auseinandersetzung sollte mit einem möglichst diversen Gipfelfoto zerstreut werden. Gleichzeitig sollte nach Moskau signalisiert werden, dass Putin nicht der einzige ist, der von Frieden spricht und damit versucht, den Diskurs zu monopolisieren. Insofern ist der Gipfel doch gelungen, oder?

Im Wettlauf um die globale Aufmerksamkeit kann man Teilerfolge von Bürgenstock konstatieren. Allein der Umstand, dass eine Reihe von BRICS-Staaten anwesend war, zeigt, dass das weltweite Unbehagen über den russischen Angriffskrieg weiter reicht als nur in die direkte Unterstützerkoalition für die Ukraine. Das divers besetzte Gruppenfoto vor der eindrucksvollen Kulisse ist ein wichtiges Zeichen für die Aufmerksamkeit, die der Ukraine auch nach zweieinhalb Jahren Krieg weiter gewidmet wird. Problematisch ist dabei weniger das erwartbare Fehlen Russlands. Tiefer klafft die Lücke, die China hinterlässt, aber auch die Tatsache, dass der US-Präsident  Joe Biden vom G7-Gipfel in Italien lieber zu einem Fundraising-Event mit George Clooney und Julia Roberts nach Hollywood reiste als in die Schweiz.

Die Wahrheit ist allerdings, dass Russland trotz der vollmundigen Verhandlungsankündigungen, aber auch die Ukraine aufgrund des aktuellen Frontverlaufs weiterhin auf eine militärische Lösung des Konflikts setzen und der Ansicht sind, die Zeit ticke für sie. Für die Ukraine, deren militärische Strategie von der Unterstützung von außen abhängt, war das Treffen aber deutlich wichtiger als für Russland.

Mittelfristig kann der Gipfel an Bedeutung gewinnen, wenn in der Folge die Webfehler von Bürgenstock vermieden werden. Die Hoffnung war von Beginn an, dass diese Konferenz Teil eines länger andauernden Prozesses sein werde, der auch nicht bei null anfangen müsse. Gerade in den Themenfeldern Gefangenenaustausch, nukleare Sicherheit oder auch Getreideexporte gibt es bereits eine Reihe von direkten Gesprächsfäden zwischen Russland und der Ukraine. Der Fokus auf diese Themen ermöglicht daher eine von beiden Seiten akzeptierte und auch bereits praktizierte Modularisierung. Die Überfrachtung mit Erwartungen wird damit vermieden. Gleichzeitig sollen nach der Schweiz, die von Russland explizit nicht mehr als neutral wahrgenommen wird, andere Länder den Staffelstab übernehmen und ähnliche, aber inklusivere Gesprächsformate anbieten. Im Vorfeld war hier die Rede von Saudi-Arabien, was möglicherweise ein nachvollziehbarer Grund dafür ist, dass der saudische Außenminister das Schlusskommuniqué nicht unterzeichnet hat.

Vom Bürgenstock bleibt erstmal wenig, außer das Schlusskommuniqué und das Gipfelfoto.

Denn ein Prozess, der langfristig zu erfolgversprechenden Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland führen soll, kann auf Dauer nicht ohne Vertreterinnen und Vertreter aus Moskau stattfinden. Dafür bedarf es auch eines anderen Formats und vor allem einer größeren Vertraulichkeit. Die mediale Aufmerksamkeit für das Event in der Schweiz, die Kommentierung jeder Zu- oder Absage im Vorfeld erzeugte den Eindruck, dass eine Teilnahme bereits mit Parteinahme verbunden sei. Das wollen viele Staaten nicht, sodass sie entweder gleich fernblieben oder eben keine gemeinsame Erklärung unterzeichneten. Der Unwille, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden, ist vor allem außerhalb des Globalen Nordens weit verbreitet und es ist auch nicht sinnvoll, Staaten, die sich dem verweigern, pauschal dem anderen Lager zuzuordnen.

Daher muss auch der Ausgangspunkt des Folgeprozesses anders gewählt werden. Die Inspiration der Konferenz durch den Friedensplan von Selenskyj wirkte außerhalb des unmittelbaren Unterstützungskreises der Ukraine wie eine einseitige Parteinahme der Schweiz. Darunter litt die Akzeptanz dieses Formats von Beginn an, weil die doppelte Zielsetzung – Solidaritätsbekundung und Friedensprozess – verwirrend war. Gerade das erste Ziel drohte den Gipfel in ein Public Diplomacy Event zu verwandeln. Die terminliche Einbettung direkt nach der Ukraine Recovery Conference in Berlin und dem G7-Gipfel in Italien war in dem Sinne zusätzlich unglücklich.

Aber ein Prozess, mit dem Frieden nicht nur verhandelt, sondern auch gesichert werden kann, braucht einen anderen Kreis von Teilnehmerstaaten. Zugeständnisse von Russland, das aufgrund der Lage an der Front nur wenig Grund sieht, von seinen Maximalforderungen abzurücken, sind kaum zu erreichen, indem beispielsweise der Papst oder auch ein Vertreter von Costa Rica involviert werden. Hierfür bedarf es einer Reihe von Akteuren, die Moskau glaubhafte Angebote machen – und ebenso mit  Sanktionen drohen – können, sprich vor allem China, die USA, aber auch die Türkei oder die Golfstaaten. Nur mit deren langfristiger Involvierung kann das Verpflichtungsproblem bei möglichen Abkommen mit Russland glaubhaft adressiert werden. Nur mit ihrer Mitwirkung kann die berechtigte Sorge eingehegt werden, Russland könnte sich an ein mögliches Abkommen nicht halten.

Vom Bürgenstock bleibt erstmal wenig, außer das Schlusskommuniqué und das Gipfelfoto. Dennoch hat die Schweiz die schwierige Gratwanderung zwischen ernsthaftem Friedensimpuls und Unterstützung für die Ukraine erfolgreich bewältigt. Die Erwartungen waren niedrig angesetzt und konnten daher nicht enttäuscht werden. Aber, ob es wirklich ein Erfolg war, wird sich erst in der Folge erweisen. Das Fragezeichen nach dem „Gipfel für den Frieden, oder?“ wird sich erst in den kommenden Monaten auflösen, wenn überhaupt.

Originally published, IPG-Journal, 18 June 2024