Julia Wanninger ist überzeugt: Die EU braucht eine gemeinsame Außenpolitik. Dafür muss sie die „Sprache der Verantwortung“ und nicht die „Sprache der Macht“ lernen. Eine größere Verantwortung – gegenüber den eigenen Bürgern, in den Beziehungen zu den Nachbarn und in der multilateralen Zusammenarbeit – wird der EU ein größeres Gewicht in der internationalen Politik verleihen. Der Kommentar ist Teil des FLEET-Projekts „Responsible Europe“.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wünschte sich vor einiger Zeit, die Europäische Union möge die „Sprache der Macht“ lernen. Auch ihr Vize-Präsident und Hoher Beauftragter für die Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell setzte sich hier bereits damit auseinander. Im Kopf der überzeugten Europäerin, die derzeit etwas nachdenklicher gestimmt ist als sonst, aber dennoch eine unverbesserliche Idealistin bleibt, wirft dieser knackige, aus dem Kontext gerissene und offensichtlich gern zitierte Ausspruch allerdings einige Fragen auf: Wie hört sich denn eine „Sprache der Macht“ an? Wer soll sie sprechen? Womit wird dieser Sprache Nachdruck verliehen? Und zu welchem Zweck soll die erwähnte Macht eingesetzt werden? Um es in der Sprache Goethes auszudrücken: hoffentlich zu einem „edlen, hilfreichen und guten“!
Auf keinen Fall darf es bedeuten, dass die EU sich anschickt, andere zu übermächtigen, so wie es sich der US-amerikanische Präsident Donald Trump zu Eigen gemacht hat, andere zu überrumpeln, übertrumpfen zu wollen oder gar niederzutrampeln.
Die EU braucht eine gemeinsame Außenpolitik, die sich der eigenen Geschichte mit ihren vereinenden und trennenden Elementen bewusst ist und die fest auf innereuropäischem Zusammenhalt und Solidarität mit anderen gründet. Die EU braucht eine gemeinsame Außenpolitik, die Verantwortung nicht nur für die Vertretung der Interessen der eigenen Bürgerinnen und Bürger übernimmt, sondern sich mit vergleichbarem Verantwortungsgefühl für die multilaterale Zusammenarbeit einsetzt - sowohl mit großen als auch kleinen Staaten, unabhängig davon ob es hierbei um die unmittelbaren oder die entfernteren Nachbarn der klein gewordenen Welt geht, um althergebrachte oder neu gewonnene Verbündete, um Partner oder Konfliktpartner.
Wollen wir tatsächlich eine mächtige, machtvolle Europäische Union? Wollen wir nicht eher eine, die ihrer Verantwortung gerecht wird, weil sie die nötige Überzeugungs- und Durchsetzungskraft besitzt?
Die Stärke der EU ruht zu einem großen Anteil in der Anziehungskraft ihres Projekts europäischer Integration. Der Aufbau einer europäischen Gemeinschaft – zunächst der EG, später der EU – bestand darin, nacheinander für immer mehr Bereiche des europäischen Alltagslebens und der Politik gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Keiner der Gründungsväter und –mütter beabsichtigte, Macht von staatlichen Institutionen einfach auf supranationale Institutionen abzuwälzen. Vielmehr sollte Verantwortung geteilt werden, um größere politische Gestaltungsmacht zu gewinnen. Genau darum geht es auch heute noch, sowohl in der EU-Innen- als auch in der EU-Außenpolitik.
Die Anziehungskraft der EU wirkt inzwischen auf besondere Weise in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft. Zwar harrt dort auch eine Reihe ungelöster Konflikte, darunter jahrzehntelang schwelende wie der Nagorno-Karabach-Konfllikt oder neu heraufbeschworene wie in der Ostukraine, die immer wieder zu beschwörenden Appellen an die EU führen, sich engagierter in die Konfliktlösung einzubringen. Doch abgesehen von der Hoffnung, die EU möge ihr ganzes Selbstverständnis als Friedensmacht in die Waagschale werfen und den Frieden auf dem ganzen europäischen Kontinent zu festigen helfen, verbinden sich mit der Europäischen Union noch ganz andere europäische Träume. Insbesondere in den osteuropäischen Nachbarstaaten der EU, den Ländern der sogenannten Östlichen Partnerschaft, werden an den Partner EU große Erwartungen gestellt. Reformorientierte Politiker, an erweitertem Handel und an wirtschaftlicher Modernisierung interessierte Unternehmen, engagierte Vertreter der Zivilgesellschaft – für viele von ihnen steht die EU für ein Versprechen nicht nur von Handel und Austausch oder Sicherheit, sondern auch von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie ganz konkret von besseren Lebensbedingungen und –perspektiven. Hier ist weniger Macht als Verantwortung gefragt.
Die EU muss daher Verantwortung übernehmen für die eigenen Stärken und die eigenen Schwächen. Die Stärke ihrer Außenpolitik ruht darin, dass sie eine Bündelung von Kräften darstellt, mit denen 27 EU-Mitgliedstaaten sie ausstatten. Zugleich liegt darin auch die Schwäche ihrer Außenpolitik: Mangelt es am Willen zur Kräftebündelung, dann mangelt es auch an gemeinsamer Durchsetzungskraft. Josep Borrell hat Recht, wenn er sagt: „Das Problem Europas ist nicht die fehlende Macht. Das Problem ist vielmehr der mangelnde politische Wille, diese Machtfaktoren zu bündeln, um ihre Kohärenz sicherzustellen und ihre Wirkung zu maximieren.“
Was braucht eine europäische Außenpolitik, um diesem Dilemma zu entkommen? Es braucht zunächst einmal den bereits erwähnten unverbrüchlichen, innereuropäischen Zusammenhalt, der sowohl auf der Einhaltung geteilter Rechte und Pflichten als auch auf dem vor Jahrzehnten selbstgesteckten Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion gründet. Es braucht den politischen Willen und Mut, auch in außenpolitischen Fragen vom Einstimmigkeitsprinzip zur Mehrheitsentscheidung überzugehen. Es braucht die Einsicht darin, dass uns die Fähigkeit der EU, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu wahren und zu vermehren, auch etwas kosten darf. Es braucht eine enge Verzahnung von Außen- und Sicherheitspolitik mit den unterschiedlichsten anderen Politikbereichen. Dazu gehören zum Beispiel internationaler Handel, Verteidigung, Europäische Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik, aber eben auch Investitionsschutz und weltweiter Schutz von Menschenrechten und ihren Verteidigern, Klima- und Umweltpolitik, Asyl- und Migrationspolitik. Es braucht nicht zuletzt einen starken, weil tatsächlich Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), dessen Mitarbeiter ihr diplomatisches Handwerk nicht nur in einem diplomatischen Dienst eines EU-Mitgliedstaates gelernt haben oder als Beamter einer anderen EU-Institution in den EAD wechseln, sondern auch eine genuin europäische Diplomatenausbildung und -laufbahn absolvieren.
Wenn es der EU gelingt, sich die eigenen Stärken und Schwächen zu Nutzen zu machen, dann wird sie keine Sprache der Macht brauchen, weil die Macht ihrer Taten sprechen wird.
Über die Autorin:
Julia Wanninger ist außenpolitische Referentin der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament.
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Ansichten spiegeln die persönliche Meinung der Autorin wider und sind nicht notwendigerweise die vom Europäischen Parlament oder FES ROCPE.
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