Nicole Katsioulis · IPG Journal
Die 40-Stunden-Woche gehört abgeschafft. Denn Vollzeitarbeit ist mit Gleichberechtigung nicht vereinbar, meint Teresa Bücker.
Wir brauchen eine neue Zeitkultur. Sie ist auch der Schlüssel zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Das ist die Kernaussage des neuen Buches „Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“ von Teresa Bücker – eine der derzeit interessantesten Feministinnen und Publizistinnen Deutschlands. Was hat Zeit mit Macht und Freiheit zu tun? Wer wird für Arbeitszeit bezahlt und wer nicht? Wer hat Zeit, sich politisch zu engagieren und für die eigenen Interessen einzutreten? Wieviel Zeit räumen wir in unserem Leben der Erwerbsarbeit ein und wieviel Zeit der Sorgearbeit, Erholung und unseren sozialen Beziehungen? Das sind Fragen, mit denen sich die Autorin in ihrem Buch auseinandersetzt. Sie liefert damit einen sehr spannenden Beitrag zur Debatte über Zeitgerechtigkeit und zeigt, dass diese Debatte eng verknüpft ist mit der Forderung nach Gleichberechtigung und mehr Lebensqualität. Laut Bücker ist das Vollzeit-Modell nicht mit Gleichberechtigung vereinbar. Hierzu führt sie mehrere Gründe an:
Erstens: Das Vollzeit-Modell blendet Care-Arbeit aus. Den Achtstundentag – bis heute das Maß für einen „normalen“ Arbeitstag – identifiziert die Autorin als „lebensferne Vorstellung von Zeit“. Er blende die Arbeit zu Hause nämlich vollkommen aus und spreche ihr ab, richtige Arbeit zu sein. Aber reproduktive Tätigkeiten, wie Kinder erziehen, Angehörige pflegen, kochen und Wäsche waschen seien notwendige Arbeiten. Sie stellten sogar die Basis dafür dar, dass Menschen am Morgen zur Lohnarbeit aufbrechen können. Die Auffassung, die eigene Arbeit sei getan, wenn man den Arbeitsort verlasse, sei schlicht falsch und trage heute noch zum Gender-Care-Gap bei: „Männer in Deutschland, die in einer Partnerschaft mit einer Frau leben, zeigen weniger Bereitschaft, die im gemeinsamen Haushalt anfallenden Arbeiten gleichberechtigt zu übernehmen. Die Care-Arbeitszeit von Frauen beträgt pro Tag 87 Minuten mehr als die von Männern.“
Zweitens: Care-Arbeit ist Arbeit. Aber sie ist ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt. Ist Fürsorge eigentlich Arbeit? – fragt Teresa Bücker und beantwortet die Frage ausdrücklich mit „Ja“. Allerdings lebten wir in einer patriarchalen Gesellschaft, die sich vor allem an von Männern entwickelten Standards und ihren Lebensentwürfen orientiere. In dieser Gesellschaft könne Care nicht als gleichwertige Arbeit anerkannt werden, weil die Abwertung von allem, was mit Weiblichkeit verknüpft ist, diese Kultur noch immer präge. Care würde heutzutage immer noch viel zu wenig als Arbeit betrachtet. Würden wir hingegen Fürsorge als gleichwertige Arbeit anerkennen, sie gerecht verteilen und angemessen bezahlen, dann würde das die Machtverhältnisse in der Gesellschaft komplett verändern. Dazu brauche es jedoch ein neues Bewusstsein dessen, was Arbeit ist. Eines, das weit mehr beinhaltet als nur Erwerbsarbeit. Die Autorin betont, dass die Neuverteilung und Aufwertung von Care-Arbeit die drängendste politische Machtfrage unserer Zeit ist.
Erwerbsarbeit sollte nicht länger das Zentrum unserer Zeitkultur sein.
Drittens: Erwerbsarbeit sollte nicht länger das Zentrum unserer Zeitkultur sein. Gesellschaftlicher Maßstab für eine „gelungene“ Erwerbsbiografie oder Karriere ist, wer viel Zeit für bezahlte Arbeit aufbringen kann, meint die Autorin. Aber nicht alle Menschen könnten von morgens bis abends in ihren Berufen arbeiten. Es gibt viele Menschen, die ihr Leben nicht um eine Vollzeitstelle herum strukturierten: unter anderem Kinder, junge Menschen in Ausbildung, Erwachsene mit Teilzeitstellen oder Minijobs, Personen in Rente sowie mit Hausarbeit beschäftigte Personen. Der größte Teil unseres Lebens spiele sich, so Bücker, jenseits der bezahlten Arbeit ab. Ein „Normalarbeitsverhältnis“ sei für viele Menschen nicht Realität, unerreichbar oder nicht mehr gewünscht. Es sei daher ein Missverständnis, zu glauben, dass wir die größtmögliche Gleichberechtigung erreichen, wenn möglichst viele Menschen einen Achtstundentag im Normalarbeitsverhältnis erledigen. Eine gerechtere Zeitkultur würde Erwerbsarbeit nicht ins Zentrum rücken, sondern gleichberechtigt neben Zeit für Familie, Freundschaften, politische Beteiligung, Gesundheit und Weiterbildung stellen.
Viertens: Die Vollzeitnorm benachteiligt Menschen, die sich ihr nicht unterwerfen. Menschen, die sich um andere kümmern, insbesondere diejenigen, die Kinder großziehen oder Angehörige pflegen, sollten auch in reduzierten Stellen genug Geld verdienen, um davon leben zu können, meint Teresa Bücker: „Das der Mindestlohn sich an einer 40-Stunden-Woche orientiert, diskriminiert insbesondere Frauen, da sie nach wie vor den größten Teil der unbezahlten Care-Arbeit in Deutschland übernehmen. Care-Aufgaben müssten deutlich stärker in der Rentenberechnung berücksichtigt werden, da unsere Wirtschaft ohne sie nicht funktionsfähig wäre.“
Die Abschaffung der 40-Stunden-Woche wird in anderen europäischen Ländern bereits intensiv diskutiert.
In ihrem Buch macht sie auch konkrete Vorschläge, wie eine moderne Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gleichberechtigung und Lebensqualität sorgt. Ein Modell der Zeitgerechtigkeit sehe vor, dass jeder erwachsene Mensch einen gewissen Teil seiner Zeit der Erwerbsarbeit widmet und einen gewissen Teil der Care-Arbeit (Sorge für andere und für sich selbst). Die Autorin befürwortet Modelle, wie die „Vier-in-einem-Perspektive“ der Soziologin Frigga Haug. Diese sieht vor, dass sich der 24-Stunden Tag wie folgt aufteile: acht Stunden Schlaf, vier Stunden Lohnarbeit, vier Stunden Care-Arbeit, vier Stunden für Weiterbildung und Kultur und vier Stunden für politisches Engagement. Dieses Modell sollte natürlich keine starre Vorgabe für jeden Menschen sein, meint Bücker. Es rege aber an, darüber zu reflektieren, wie es wäre, wenn alle Menschen gleichermaßen arbeitende und sorgende Personen wären. Das Modell werfe auch die Frage auf, warum einige Menschen denken, Care-Aufgaben oder zivilgesellschaftliches Engagement ginge sie nichts an.
Die 40-Stunden-Woche hält die Autorin tatsächlich für überholt. Sie gehöre abgeschafft. Es brauche stattdessen eine kürzere Wochenarbeitszeit, wie beispielsweise die Vier-Tage-Woche, außerdem armutsfeste Teilzeitlöhne und eine bessere Anerkennung der wirtschaftlichen Bedeutung von unbezahlter Care-Arbeit.
Das Buch „Alle_Zeit“ ist nicht nur schlagkräftig und lesenswert, es ist eine Pflichtlektüre für alle, die in progressiven Kreisen über neue Gesellschaftsmodelle diskutieren möchten. Die Abschaffung der 40-Stunden-Woche wird in anderen europäischen Ländern bereits intensiv diskutiert, wie beispielsweise in Großbritannien, wo sie vom Gewerkschaftsdachverband eingefordert wird. Auch in Schweden – Vorzeigeland in Sachen Gleichberechtigung – wird bei vielen Erwerbstätigen der Arbeitstag um 16 Uhr beendet, um selbstverständlich Zeit für Familie, Haushalt und Pflege zu ermöglichen. Lange Arbeitssitzungen in den Abendstunden sind dahingegen ein Tabu. Teresa Bücker springt auf den Zug der Debatte um Arbeitszeitverkürzung auf – ohne auf diese Länder explizit einzugehen. Aber sie weist in ihrem Buch den Weg in eine moderne Zeitkultur, die geschlechtergerechter und fairer ist und in der Sorgearbeit von allen Menschen neben dem Beruf verrichtet werden kann und soll.
Erschienen im IPG-Journal, 16.01.2023: https://www.ipg-journal.de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/eine-frage-der-balance-6432/
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