28.02.2022

Zwischen Tabubruch und Kontinuität

Christos Katsioulis · IPG Journal

Der Krieg in der Ukraine verändert die deutsche Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen Balance zwischen Abschreckung und Gesprächsbereitschaft.

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Zeitenwende, Zäsur, Paradigmenwechsel. Es fehlt nicht an Beschreibungen dessen, was seit dem Ausbruch des Krieges in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stattfindet. Das harte Sanktionsregime gegen Russland und der Beginn von Waffenlieferungen an die Ukraine waren erste Vorboten des Wandels. Die Sondersitzung des Bundestages mit der historischen Rede von Kanzler Olaf Scholz brachte dann die Bestätigung auch in harten Zahlen. Deutschland wird die Verteidigungsausgaben auf über zwei Prozent anheben, die Bundeswehr soll ein grundgesetzlich abgesichertes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro erhalten, um Investitionen und Anschaffungen durchführen zu können, dazu fallen weitere Tabus. Die Bundeswehr soll in einem Maße ertüchtigt werden, wie es seit dem Kalten Krieg nicht mehr der Fall war: bewaffnete Kampfdrohnen werden angeschafft, die nukleare Teilhabe wird mit neuen Flugzeugen weitergeführt, gemeinsame europäische Rüstungsvorhaben sollen beschleunigt werden.

Aber die Bundestagssitzung markiert nicht nur einen Neuanfang im Verteidigungshaushalt, sondern eine Zeitenwende in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Der Dreiklang zwischen Westbindung, Ostpolitik und europäischer Integration ist in Frage gestellt. Der Grundidee, dass Sicherheit in Europa nur mit Russland möglich ist, hat der Bundeskanzler vorerst eine Absage erteilt.

Bundeskanzler Scholz hat der Grundidee, dass Sicherheit in Europa nur mit Russland möglich ist, vorerst eine Absage erteilt.

In fast allen Reden der Koalitionäre, aber auch in Teilen der Opposition klang eine Desillusionierung mit Russland durch, eine schwere Enttäuschung über die Invasion und Wut über den Bruch des Völkerrechts. Nach den diplomatischen Bemühungen um eine Vermeidung des Krieges herrschte eine tiefe Ernüchterung über die Handlungen des Kremls und das kaltblütige Kalkül hinter dem Angriff auf die Ukraine.

Das Verhältnis zu Russland, das für Deutschland stets von besonderer Bedeutung war, hat sich daher grundlegend verändert. Konzepte wie „Wandel durch Annäherung“ oder „Wandel durch Handel“ gehören der Vergangenheit an. Stattdessen zieht eine konfrontative Logik gegenüber dem Regime Putin ein. Begrifflichkeiten des Kalten Krieges wie Abschreckung und Eindämmung werden an Bedeutung gewinnen. Dialog, so die ernüchterte Feststellung des Kanzlers, braucht auch Gesprächsbereitschaft auf der anderen Seite.

Ausgehend von diesem Moment stellt sich die Frage, wie tiefgreifend die Veränderungen deutscher Außenpolitik sind. Die Außenministerin zog aus den Ereignissen der vergangenen Tage einen weitreichenden Schluss: „Vielleicht ist es so, dass Deutschland am heutigen Tag eine Form besonderer und alleinstehender Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinter sich lässt. Die Regeln, die wir uns dafür gegeben haben, dürfen uns nicht aus unserer Verantwortung nehmen. Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein.“

Drei Dimensionen sind in Bezug auf Russland von Bedeutung. Erstens die Vermeidung einer weiteren Eskalation, zweitens die Exit-Strategie aus dem aktuellen Konflikt und drittens der Platz Russlands in Europa.

Die Lieferung von Waffen in die Ukraine ist ein erster Schritt der Abkehr von der deutschen Kultur der Zurückhaltung. Die Ankündigung des erhöhten Verteidigungshaushaltes ist demgegenüber kein eindeutiges Signal in Richtung einer stärker militarisierten deutschen Außenpolitik – der Schwerpunkt liegt auf Verteidigung. Damit verschiebt sich für viele Beobachterinnen der historische Referenzpunkt sozialdemokratischer Außenpolitik: weg von der Ostpolitik Willy Brandts, hin zur entschlossenen Sicherheitspolitik von Helmut Schmidt zu Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses – wobei die nun rapide getroffenen Entscheidungen weitreichender sein dürften als vor 40 Jahren.

Aber der Paradigmenwechsel Deutschlands lässt einige Fragen offen, die die Debatte in den kommenden Wochen und Monaten beschäftigen müssen, auch wenn der Konfliktausgang in der Ukraine weiterhin unabsehbar ist. Dabei steht neben der Beschleunigung der europäischen Akteurswerdung kurz- bis mittelfristig der Umgang mit Russland im Mittelpunkt.

Drei Dimensionen sind in Bezug auf Russland von Bedeutung. Erstens die Vermeidung einer weiteren Eskalation, zweitens die Exit-Strategie aus dem aktuellen Konflikt und drittens der Platz Russlands in Europa. Die momentane Politik, die mit Sanktionen, Waffenlieferungen und einer starken Personalisierung auf Präsident Putin beinahe schon an den Umgang mit Nordkorea erinnert, birgt die Gefahr einer weiteren Eskalation, der Ausweitung des Konflikts – und dies mit einer Nuklearmacht. Daher müssen die militärischen und diplomatischen back channels vor allem zwischen den USA und Russland aufrechterhalten werden und es muss dringend der Eindruck vermieden werden, dass NATO-Staaten sich aktiv in den Konflikt einmischen. Ankündigungen, dass europäische Militärflugzeuge zur Unterstützung der Ukraine eingesetzt werden, oder ähnliche Aktivismen sollten vermieden werden. Zudem sollte innerhalb des Sanktionsregimes penibel darauf geachtet werden, die Differenzierung zwischen Elite und russischer Gesellschaft aufrecht zu erhalten, um keinen Wagenburgeffekt in Russland zu erzeugen.

Das europäische Augenmerk muss geschärft werden, den richtigen Moment zu erkennen, in dem Sicherheit in Europa wieder mit Russland denkbar wird.

Zweitens und eng damit verbunden braucht es eine Exit-Strategie aus dem heißen Konflikt, die es auch für Putin möglich macht, gesichtswahrend das Feld zu verlassen. Hier spielen Deutschland und die EU eine zentrale Rolle, indem Sanktionen schrittweise zurückgenommen werden, sobald Entgegenkommen der anderen Seite zu erkennen ist. Auch wenn es sichtlich schwerfällt, diesem Regime Zugeständnisse zu machen, sollte der Fokus dennoch auf einer möglichst schnellen Beendigung der Kampfhandlungen und der Eskalation liegen. Andeutungen zur Beförderung eines Regimewechsels in Moskau sind dabei grundsätzlich kontraproduktiv, weil auch wegen der Nuklearwaffen vermieden werden sollte, dass das Regime ums eigene Überleben kämpft.

Drittens bedarf es heute schon konzeptioneller Überlegungen darüber, welchen Platz Russland und die Ukraine künftig in Europa haben werden. Denn bei allen Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine darf nicht vergessen werden, dass ein NATO-Beitritt bis vor Kurzem „nicht auf der Tagesordnung“ stand und auch der EU-Beitritt ein eher hypothetisches Konstrukt ist, das keine Zustimmung finden wird. Um zu vermeiden, dass das Land zu einer dauerhaften Insel der Instabilität am Rande Europas wird, das zu immer wieder aufflammenden Konflikten mit Russland führt, müssen Konzepte wie Neutralität, Demilitarisierung und Sicherheitsgarantien ernsthaft diskutiert werden. Dabei muss das europäische Augenmerk dafür geschärft werden, den richtigen Moment zu erkennen, in dem Sicherheit in Europa wieder mit Russland denkbar wird, um in eine konstruktive Gestaltung einer europäischen Friedensordnung einzusteigen.

Die deutsche „Ostpolitik“ bedarf unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges einer Neudefinition.

Alle drei dieser Aspekte – und es handelt sich dabei lediglich um eine Auswahl – machen deutlich, dass der Paradigmenwechsel deutscher Außenpolitik nicht mit dem Umlegen eines Schalters vergleichbar ist. Stattdessen geht es darum, klug die einzelnen Säulen deutscher Außenpolitik miteinander in Bezug zu bringen. Dazu gehören erstens die Bündnisfähigkeit in der NATO sowie vor allem die Gestaltung der europäischen Integration mit dem Ziel, die EU zu einem souveränen Akteur auf der Weltbühne zu machen. Denn bei aller Euphorie über die Einigkeit heute darf nicht vergessen werden, dass ein Transatlantiker im Weißen Haus in Zukunft wohl eher die Ausnahme als die Regel sein wird.

Zu den Säulen deutscher Außenpolitik wird zweitens weiterhin gehören, die besondere Verantwortung Deutschlands für Völkerrecht und Menschenrechte sorgsam abzuwägen und entsprechend zu handeln. Denn dies ist und bleibt ein historisches Alleinstellungsmerkmal des Landes, das sich nicht mit einer Bundestagsrede abstreifen lässt. Dies ist vereinbar mit einer Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr, bei der Bereitschaft zu Militärinterventionen sieht es aber deutlich anders aus.

Die dritte Säule deutscher Außenpolitik ist und bleibt die Verantwortung für den Osten Europas und den Versuch, hier dauerhaft Stabilität und Frieden zu sichern. Dies stand bislang unter der Überschrift der „Ostpolitik“ und bedarf unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges einer Neudefinition. Diese kann und darf aber nicht die geopolitische Tatsache übersehen, dass Russland weiterhin ein zentraler Nachbar der EU im Osten ist und wir daher Antworten auf einige Fragen finden müssen: Was bedeutet Abschreckung heute und welche Rolle spielen dabei Deutschland und seine Streitkräfte? Die Antwort auf diese Frage wird seit dieser Woche nicht mehr unter dem Vorzeichen des Finanzierungsvorbehalts geführt, was ein Schritt in die richtige Richtung ist. Wie können wir Russlands Streben nach Einfluss eindämmen und dennoch Eskalationen vermeiden? Was sind unsere Vehikel des Dialogs und welches Ziel verfolgen wir damit auch vor dem Hintergrund transnationaler oder sogar planetarer Herausforderungen? Nur wenn wir darauf eine tragfähige Antwort finden, die über die aktuellen Ankündigungen hinausgeht, können wir dazu beitragen, dass die Zäsur der letzten Wochen unsere Zukunftsaussichten nicht dauerhaft beeinträchtigt.

Ursprünglich erschienen im IPG-Journal, 28.02.2022:
https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/zwischen-tabubruch-und-kontinuitaet-5748/